Die Buchautorin und Mitarbeiterin auch bei den Hamburger Stolpersteinen, Margot Löhr, hat auf der Kundgebung am 3. Mai 2022 über die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen in der Sternwoll-Spinnerei, ihren Arbeits- und Lebensbedingungen gesprochen. Es ging um ihre verstorbenen Kinder und den Opfern unter den verschleppten sowjetischen Frauen.
Hier im Lager Brahmsstraße 75 gab es neben dem Französinnenlageauch ein sogenanntes Russinnenlager, über 50 Frauen waren hier untergebracht. Einige von ihnen hatten daneben auch ihre Kinder zu versorgen, eine für sie überaus schwierige Aufgabe.
Aus ihrer Heimat Ukraine Russland und Weißrussland (heute Belarus) verschleppt, wurden die Frauen als sogenannte Ostarbeiterinnen seit Juli 1942 für die Kriegswirtschaft in der Wollfabrik eingesetzt. Für sie galten sehr strenge Regelungen.
Auf dem Werksgelände, mit einem Zaun von der Fabrik abgeschirmt, nachts mit bewaffneter tags unbewaffneter Überwachung, waren sie in Baracken mit ihren Kindern untergebracht. Lagerführerin Franziska Seelhorst, geb. Csillag, wohnte im Lager.
Verboten war den Frauen die Benutzung eines Fernsprechers, das Photographieren und das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, es sei denn zu Arbeitseinsätzen. Sie durften keine Geschäfte, keine Gaststätten, auch keine Kirchen betreten und sich im Winter ab 19:00 Uhr nicht mehr außerhalb des Lagers aufhalten. Mit der deutschen Bevölkerung war der nähere Umgang strengstens verboten. Kinder galten ab dem 12. Lebensjahr, später ab 10 Jahren als arbeitsfähig.
Bis zum Sommer 1943 wurden die Zwangsarbeiterinnen, wenn sie schwanger waren, in ihre Heimat zurückgeschickt, sie wurden nicht mehr als nützlich angesehen. Da durch die anhaltende Kriegssituation der Bedarf an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie stetig stieg, war es dann doch wieder notwendig sie einzusetzen. Eine Rückreise in ihre Heimat war ihnen verwehrt.
Über die Mütter dieser Kinder und die Umstände der entstandenen Schwangerschaft ist kaum etwas überliefert. Die Väter der in vielen Fällen unehelich geborenen Kinder sind bis auf wenige Ausnahmen in den Geburts- und Sterberegistern nicht benannt. Teils kamen die Mütter bereits schwanger aus ihren Heimatländern nach Hamburg, teils wurden sie in ihrer Zeit als Zwangsarbeiterinnen schwanger.
Die schwangeren Frauen mussten sich einer Rasseuntersuchung unterziehen, getarnt als gesundheitliche Untersuchung, die von Mitarbeitern des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes im weißen Kittel durchgeführt wurde. Es war die pseudowissenschaftliche, menschenverachtende Rassenideologie der Nazis, die auch hier in erschreckender Weise bei den sog. Ostarbeiterinnen und Polinnen Anwendung fand.
Bei zu erwartendem sogenannt „schlechtrassigem“ Nachwuchs wurden die Frauen gedrängt abzutreiben, das galt nicht für sogenannte Westarbeiterinnen, und für die deutsche Frau stand Abtreibung nach § 218 unter hoher Strafe.
In der Zeit von 1943 bis 1945 sind in der Frauenklinik Finkenau bei den Hamburger Zwangsarbeiterinnen etwa ebenso viele Geburten wie Schwangerschaftsabbrüche, jeweils über 500, verzeichnet.
Es ist belegt, dass 6 Schwangerschaftsunterbrechungen bei Zwangsarbeiterinnen aus dem Lager Brahmsstraße 75 vorgenommen wurden.
Wenn die Zwangsarbeiterinnen dennoch ihre Kinder austrugen, wurden sie oft hochschwanger in die Lager mit einer sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätte“ verlegt, wie sie in Bergedorf im Lager Kampchaussee, in Groß-Borstel im Lager Sportstraße oder im Lager Tannenkoppel eingerichtet worden waren. Es waren Ablegestellen.
Es ist kaum vorstellbar, dass die Kinder hier eine sogenannte Betreung erhielten.
Geweckt wurden die Frauen um 5:15 Uhr, eine 3⁄4 Std. vor Arbeitsbeginn, die Arbeitszeit betrug 10 Stunden, sie wurden „geschlossen und bewacht der Arbeit zugeführt“.
Es war ihnen so nicht möglich, ihre Kinder ausreichend zu stillen oder zu versorgen, auch litten sie selbst unter Hunger. Die meisten Kinder starben nach kurzer Zeit durch Vernachlässigung und Unterernährung.
Die meisten Kinder kamen in der Frauenklinik Finkenau in Hamburg-Uhlenhorst zur Welt
3 Kinder in der Frauenklinik Altona, 6 Kinder in der Frauenklinik Finkenau, Hamburg-Uhlenhorst. 2 Kinder verstarben im Lager Brahmsstraße 75, 1 Kind nach der Geburt in der Frauenklinik Altona
Maria Mischtenkow, geb. am 2.6.1918 in Jesgotschnaja/Kursk, war verheiratet. Name und Schicksal des Ehemannes sind nicht bekannt.
Aus ihrer Heimat Russland mit 24 Jahren verschleppt, musste sie laut Hausmeldekartei seit dem 20. Februar 1943 für die Wollgarnfabrik Tittel & Krüger Zwangsarbeit leisten. Ob der zwei Jahre jüngere Nikolaj und die 4 Jahre jüngere Raissa Mischtenko, die mit ihr kamen, ihre Geschwister waren, oder Nikolaj ihr Ehemann, ist nicht bekannt.
Maria Mischtenkow war mit ihnen im „Russenlager“ Brahmsstraße 75 (heute Griegstraße) untergebracht und im 5. Monat ihrer Schwangerschaft.
Sie brachte ihren Sohn Juri am 26. Juli 1943 um 11:00 Uhr in der Frauenklinik Altona, Bülowstraße, zur Welt.
Die kurze Zeit seines Lebens musste Juri im Zwangsarbeitslager Brahmsstraße 75 verbringen. Die Ernährungs- und Lebensbedingungen waren für ihn völlig unzureichend. Er verstarb dort am 14. April 1944 um 14:30 Uhr.
Im Sterberegister ist als Todesursache „Bronchopneumonie.“ (Lungenentzündung) „Herzschwäche.“ eingetragen. Die im Lager wohnende Lagerführerin Franziska Seelhorst zeigte den Sterbefall mündlich an.
Juri wurde 8 Monate, 2 Wochen und 5 Tage alt.
Sechs Tage nach seinem Tod fand seine Beisetzung am 20. April 1944 auf dem Friedhof Ohlsdorf statt, Grablage: Q 39, Reihe 2, Nr. 35. Sein Grab ist nicht mehr erhalten. Ende des Jahres 1959 wurde es zusammen mit mindestens 146 Gräbern der Kinder von Zwangsarbeiterinnen auf Areal Q 39 eingeebnet.
Maria Mischtenkow kam kurze Zeit später am 8. Mai 1944 zur Schwangeschaftsunterbrechung erneut in die Frauenklinik Finkenau.Dort wurde sie nach 10 Tagen entlassen und musste weiter bis Kriegsende in der Wollgarnfabrik Tittel&Krüger Zwangsarbeit leisten.
Das Ehepaar Pelageja Ossikowa, geb. am 18.12.1922 in Bogatoje/Kursk, und Sitschow Ossikowa, waren römisch-katholischen Glaubens. Aus ihrer Heimat Russland verschleppt, mussten Pelageja Ossikowa seit dem 18. Februar 1943 für die Wollgarnfabrik Tittel & Krüger Zwangsarbeit leisten. Sie war bereits im dritten Monat ihrer Schwangerschaft.
Pelageja Ossikowa brachte ihre Tochter Sitschowa am 21. August 1943 um 9:50 Uhr in der Frauenklinik Altona, Bülowstraße 9/11, zur Welt.
Einen Tag nach der Geburt verstarb Sitschowa dort am 22. August 1943 um 8:30 Uhr. In der Todesanzeige des Krankenhauses ist von Dr. Günther als Todesursache „Lebensschwache Frühgeburt“ angegeben. Sitschowa wurde 1 Tag alt. Sechs Tage nach ihrem Tod fand ihre Beisetzung am 28. August 1943 auf dem Friedhof-Altona statt, Grablage: Kindergrab Abteilung 24, Lager 25, Reihe 3, Nr. 382. Ihr Reihengrab ist heute nicht mehr erhalten. Nach fünfzehn Jahren wurde es gemäß der Friedhofsordnung eingeebnet. Auch Pelageja Ossikowa kam erneut in die Frauenklinik Finkenau, am 23. März 1944 für eine Schwangerschaftsunterbrechung. Eine Woche später musste sie weiter bis Kriegsende in der Wollgarnfabrik Zwangsarbeit leisten.
Pelageja Goptarowa (geb. 14.10.1914) war 28 Jahre alt und verheiratet, als sie aus ihrer Heimat Nowi-Oskob/Kursk, Russland, nach Hamburg verschleppt wurde. Über ihren Ehemann ist nichts bekannt.
Seit dem 26. November 1942 musste sie für die Sternwollspinnerei AG Zwangsarbeit leisten. Hier im sogenannten „Russenlager“ Brahmsstraße 75 (heute Griegstraße) war sie untergebracht.
Am 6. Januar 1944 wurde sie zum Schwangerschaftsabbruch in die Frauenklinik Finkenau, Hamburg-Uhlenhorst eingeliefert. Sie blieb dort über zwei Monate bis zum 12. März 1944. Danach wurde sie erneut schwanger.
Am Tag der Geburt ihres Kindes kam Pelageja Goptarowa in die Frauenklinik Finkenau. Viktor Goptarowa kam am 7. Dezember 1944 dort zur Welt.
Acht Tage nach der Entbindung wurde sie am 15. Dezember 1944 mit ihrem Sohn Viktor zurück in das Lager Brahmsstraße entlassen. Dort musste Viktor die kurze Zeit seines Lebens verbringen. Die Ernährungs- und Lebensbedingungen waren für ihn völlig unzureichend.
Er verstarb im Lager am 5. März 1945 um 19:00 Uhr. Im Sterberegister ist als Todesursache „Lebensschwäche“ verzeichnet.
Der Kontorbote Jürgen Niemann zeigte den Sterbefall mündlich an.
Viktor wurde 2 Monate, 3 Wochen und 5 Tage alt.
Drei Wochen nach seinem Tod fand seine Beisetzung am 29. März 1945 auf dem Friedhof Ohlsdorf statt, Grablage: Q 39, Reihe 8, Nr. 8. Sein Grab ist nicht mehr erhalten. Ende des Jahres
1959 wurde es zusammen mit mindestens 146 Gräbern der Kinder von Zwangsarbeiterinnen auf Areal Q 39 eingeebnet.
Pelageja Goptarowa musste weiter bis Kriegsende in der Wollgarnfabrik Tittel&Krüger Zwangsarbeit leisten.
Zwei junge Frauen wurden am 29. Juli 1944 durch Bomben getötet. Als sogenannte „Ostarbeiterinnen“war es ihnen verboten, einen Luftschutzbunker aufzusuchen.
Der Tod dieser Menschen wurde wissentlich in Kauf genommen. Sie wurden den Bomben ungeschützt ausgeliefert. Gefunden wurden sie im Lager Brahmsstraße 75, verschüttet nach dem Einschlag einer Fliegerbombe. Alexandra Kostenko war siebzehneinalb Jahre alt und stammte wie auch die fast 23-jährige Olga Romentschuk aus Nowo-Korpowka/Bezirk Stalino, heute das besetzte Gebiet Donezk.
Niemand wurde für ihren erlittenen Tod nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen.
Für diese drei verstorbenen Kinder und die zwei jungen Frauen sollten zum Gedenken hier vor Ort noch Stolpersteine gesetzt werden.
Neben den drei in Hamburg geborenen und verstorbenen Kindern aus dem Lager Brahmsstraße 75 haben weitere in Hamburg geborene Kinder vermutlich überlebt.
Alla Bulach geboren im März 43, ihre Mutter aus Tomokowka bei Poltawa/Ukraine Victor Kusnezowa, geboren im Juni 1943, seine Mutter Alexandra aus Russland Anatoli Wlassowa, geboren im Juli 1943, seine Mutter Wera aus Wolotowa bei Kursk Switlana Novochotskaja geboren im August 1943 in Altona
Katja Gorbunow, geboren im März 1944, Ihre Mutter Maija war Russin aus Archangelskoje/bei Kursk
und Leonid Masjuk im Juni 1944, seine Mutter stammte aus der Ukraine
Ihre Mütter kamen aus Kursk/Russland, an der Grenze zur Ukraine, und aus Donez, den heutigen besetzten Separatistengebieten.
Für alle Frauen ist in der Lagerkartei vermerkt „10.5.45 unbekannt abtransportiert“, d.h. die Kinder wurden mit ihren Müttern nach Kriegsende in deren Heimat abgeschoben.
Vielleicht wohnen sie heute in der Ukraine und kommen als Flüchtlinge nach Deutschland, vielleicht sogar nach Hamburg.
Wiktor Wassiljewitsch Kiba, geb. 1933, der als Zeitzeuge 2004 hier war, stammte mit dem 4 Jahre älteren Buder Wladimir und seiner Familie aus Luhansk. Er musste hier als 10-Jähriger rostige Nägel und Eisenstangen mit der Drahtbürste bearbeiten.
Sie haben den grausamen 2. Weltkrieg als Kinder überstanden – gerade arbeiten wir diese ihre Schicksale noch auf – mögen sie alle nun diesen schrecklichen Angriffskrieg von Putin in der Ukraine – auch mit unserer Hilfe – überstehen.
Am kommenden Sonntag, den 8. Mai, um 14:00 Uhr, findet im Garten der Frauen auf dem Friedhof Ohlsdorf die Einweihung eines Gedenkglaswürfels auch für diese Kinder statt.